Schmerzen im Gesäß, die manchmal ins Bein ausstrahlen, kennen viele von euch. Doktor Google und Social Media unterstützen die Selbstdiagnose meistens mit dem Treffer „Piriformis-Syndrom“. Als Eigentherapie wird zum Dehnen und zur Behandlung mit dem Tennisball oder einem Faszienball geraten. Wenige Betroffene kommen damit wirklich weiter. In diesem Artikel erfährst du, warum die dieses Vorgehen oft nicht hilfreich ist und welche Alternativen es im Herangehen an das Problem Gesäßschmerz gibt.
Piriformis-Syndrom – eine Trenddiagnose?
Oft höre ich von Kunden aber auch von Sportlern in meinem Umfeld oder in meinem Bekanntenkreis den Satz „Ich habe Piriformis-Syndrom“. Der Weg zu dieser Diagnose ist unterschiedlich. Manchen wurde das Piriformis-Syndrom vom Hausarzt oder Orthopäden diagnostiziert. Manche haben das Internet gefragt und wieder andere kennen es vom Hörensagen und sind der Meinung, dass ihre Beschwerden genau dazu passen. Immer sind es Schmerzen im Gesäß, die oft ausstrahlen. Im Alltag führt das dazu, dass die Betroffenen Beschwerden beim Sitzen haben, was gerade in Büro-Jobs schnell quälend ist. Außerdem können viele Sportarten nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt ausgeübt werden. Aber ist daran immer der Piriformis-Muskel Schuld?
Der Piriformis ist ein birnenförmiger Muskel (daher der Name) der tiefen Hüftmuskulatur. Er zieht vom Steißbein zur Außenseite des Oberschenkels und ist hauptsächlich verantwortlich für Rotationen im Hüftgelenk. Das Besondere am Piriformis ist, dass er, je nach Gelenkstellung, sowohl an der Innenrotation, als auch an der Außenrotation des Hüftgelenks beteiligt ist. Diese Eigenschaft lässt die Herzen der Biomechanik-Nerds höher schlagen und ist für Diagnostik und Therapie ein wichtiger Anhaltspunkt.
Eine weitere anatomische Besonderheit ist der Verlauf des Ischias-Nervs, der bei vielen Menschen hinter dem Muskel entlang läuft. Bei manchen Menschen verläuft der Nerv sogar direkt durch den Muskel.
Die Theorie hinter dem Piriformis-Syndrom lautet wiefolgt: Drückt der Pirifomis-Muskel auf den Ischias-Nerv, weil er verspannt ist, kann dies zu (ins Bein ausstrahlenden) Schmerzen und Gefühlsstörungen, wie Kribbeln oder Taubheit führen. Der Nerv wird also durch Muskulatur irritiert und in seiner Funktion beeinträchtigt.
Bandscheibengeplagte Menschen sagen jetzt, dass das doch eigentlich sehr klassische Bandscheiben-Symptome sind. Das stimmt, daher muss in der Diagnostik unbedingt die Ursache im Bereich der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen werden. Und so ist man in der Medizin auch erst auf die Diagnose Piriformis-Syndrom gekommen.
Man hat nämlich festgestellt, dass es Patienten gibt, die mit diesen ins Bein ausstrahlenden Schmerzen kamen und auf die klassische Behandlung von Nervenwurzelkompressionen (u.a. durch Bandscheibenvorfall) nicht angesprochen haben. Die Ursache wurde dann in der oben beschriebenen anatomischen Lage von Muskel und Nerv gesehen und damit wurde das Piriformis-Syndrom geschaffen. Es wird also diagnostiziert, wenn eine Rückenproblematik, die diese Symptome hervorrufen kann, sicher ausgeschlossen wird.
In der Praxis erlebt man heute allerdings, dass Schmerzen im Gesäß gleich dem Piriformis-Syndrom zugeschrieben werden, ohne, dass vorher eine umfassende Diagnostik stattfindet.
Ist der Piriformis wirklich immer der Übeltäter?
Ihr ahnt es schon, die Antwort zu dieser Frage lautet Nein, nicht immer.
Neben dem Piriformis gibt es noch vier weitere kleine Muskeln, die in der tiefen Gesäßregion größtenteils für die Rotationsbewegungen im Hüftgelenk und für die Stabilisierung des Beckens beim Gehen zuständig sind. Anatomisch ist in diesem Bereich also sehr viel los und der Ischias-Nerv windet sich durch diese Strukturen. Ob nun einzig und allein der Piriformis aufgrund einer Muskelverkürzung oder eines sehr dicken Muskelbauchs den Ischias-Nerv irritiert, kann nicht festgestellt werden. Es ist auch nicht möglich, den Piriformis-Muskel isoliert zu testen. Denn an den Bewegungen, die der Piriformis macht, sind immer noch andere Muskeln beteiligt. Da man also gar nicht bestimmt sagen kann, dass nur der Piriformis das Problem ist, spricht man in der Wissenschaft heute vermehrt über das „Deep Gluteal Syndrome“.
Es gibt aber auch noch weitere Strukturen, die ähnliche Beschwerden verursachen können. Neben den Nervenwurzelkompressions-Syndromen, die aus der Lendenwirbel-Region stammen, kann das Problem auch vom Iliosakralgelenk (ISG) oder den Hamstring-Sehnen (Muskulatur des hinteren Oberschenkels) ausgehen. Zu guter Letzt kann es sich auch um ein myofasziales Problem (z.B. Muskelhartspann, Triggerpunkte) handeln.
Schmerzen im Gesäß – was tun?
Aus dem Verständnis heraus, dass du Ursache für Gesäßschmerzen vielseitig und komplex sein kann, wird auch verständlich, warum es nicht die eine Übung dafür gibt. Oft wird der Figure Four Stretch oder das One Legged Pidgeon zusammen mit dem Ausrollen der Gesäßregion auf einem Faszienball als DIE Therapie gegen das Piriformis-Syndrom verkauft. Wenn allerdings nicht ganz klar ist, welche Struktur tatsächlich betroffen ist und Probleme macht, kann dieser Ansatz schnell das Problem verschärfen.
Durch orthopädische Tests, Muskelfunktionstests und Beweglichkeitstests kann sehr spezifisch herausgefunden werden, woher das Problem kommt. Dabei muss allerdings der Rücken und die gesamte Lenden-Becken-Hüftregion untersucht werden. Außerdem lohnt sich meiner Meinung nach noch ein Blick auf Knie, Sprunggelenke und die Großzehengrundgelenke. Eine solche genaue Untersuchung mit vorheriger eingehender Anamnese dauert gerne mal 45-60 Minuten und gehört meistens nicht zum Standardprogramm beim Orthopäden oder Physiotherapeuten.
Haben wir es wirklich mit einem irritierten Nerv zu tun, weil er durch einen Engpass zu stark komprimiert wird, wird dieser durch vermehrten Druck durch z.B. Massage auf einem Tennisball nur noch mehr irritiert. Das Trügerische bei der Selbstbehandlung ist, wenn wir auf dem schmerzhaften Gebiet herumrollen und dann damit aufhören, fühlt sich die Region erst einmal viel besser an. Es werden dadurch lokal einige biochemische Stoffe ausgeschüttet, die erst einmal schmerzhemmend wirken. Zudem kann man den Effekt, den man damit auf das Nervensystem erzielt, mit einem Boxkampf vergleichen. Wenn ich im Ring gerade richtig vermöbelt werde (auf meinem irritierten Nerv herumrolle), schmerzt das erst einmal. Wenn der Boxkampf vorbei ist (nach dem Abrollen), fühlt sich das erst mal im Vergleich zu vorher super an, auch wenn meine Nase gebrochen ist. Die Nase merke ich dann erst etwas später, dafür aber viel schlimmer und länger, als der eigentliche Boxkampf gedauert hat.
Irritierte Nerven brauchen Ruhe und vor allem Entlastung. Das heißt aber nicht, dass ihr all eure Aktivitäten stoppen sollt. Im Gegenteil, du solltest dich an den Schmerz angepasst bewegen, damit die Durchblutung im Gebiet gefördert wird und die Heilung der Struktur unterstützt wird. Der Nerv sollte bei den Bewegungen allerdings weder mehr komprimiert werden, noch übermäßig gedehnt werden. Physios und Trainer können dir dabei helfen, die richtigen Übungen auszuwählen und so anzupassen, dass du sicher trainieren kannst. Sie erklären dir auch, welche Bewegungen im Alltag problematisch sind und was du vorübergehend lassen bzw. anders machen solltest.
Sind verspannte und verkürzte Muskeln das Problem, ist es nicht hilfreich nur zu dehnen. Denn Muskulatur verspannt sich dann, wenn sie nicht stark genug ist, um die Anforderungen an sie zu bewältigen. Sprich, die Muskulatur ist überfordert und zieht sich aus einem Schutzmechanismus übermäßig zusammen. Die richtige Strategie lautet daher, dass die verkrampfte und verkürzte Muskulatur gezielt gekräftigt werden muss, damit sie auch wieder „loslassen“ kann. Neben einer isolierten Kräftigung müssen auch komplexe Bewegungen und Massenbewegungen, bei denen die Muskulatur im Einklang mit den übrigen Muskelketten arbeiten muss, geübt werden. Erst dann kann der gezielte Aufbau zurück zu sportartspezifischen oder alltagsspezifischen Anforderungen erfolgen.
Zur Übungsauswahl zur Kräftigung der kurzen Hüftgelenkmuskulatur gehören unter anderem:
- Glute Bridges mit vielen möglichen Variationen (Einbeinig, mit Widerstand, Betonung auf Konzentrik/Exzentrik, uvm.)
- Horse Kicks (mit Widerstand)
- Fire Hydrants in vielen Variationen (Sitz -> Vierfüßler -> Stand, jeweils mit Widerstand)
- Clam Shells (in Seitlage (mit Widerstand) -> im Stand an der Wand (mit Widerstand))
- Abduktion in Seitlage mit Gymball an der Wand
- Hip CARS im Vierfüßler und im Stand
- aktiver Hip 90/90 Stretch
- später: Squat-Variationen, Hip Thrusts
Mit diesen Übungen in einigen Variationen kommt man im Training zu Hause mit einem Widerstandsband sehr lange sehr gut aus und kann die Hüftmuskulatur schön aufbauen. Dran bleiben lohnt sich, auch wenn man die akuten Beschwerden in den Griff bekommen hat, sollten diese Übungen immer wieder regelmäßig trainiert werden. Damit kann langfristig erneut Problemen in der Gesäßregion vorgebeugt werden.
Hier findet ihr ein Bild zur Anatomie der tiefen Glutealregion am Präparat („in echt“, keine Zeichnung), weshalb es nicht im Artikel zu sehen ist: Tiefe Hüftmuskulatur und Ischias Nerv
Quellen:
PMID: 27011826, 28066745, 19010285, 34913517